In Produktion

Dr-Ing. Georg Ullmann,
IPH – Institut für Integrierte Produktion Hannover gemeinnützige GmbH, Hannover

 

Deutschland hat als Industriestandort eine lange Tradition. Seit mehr als 100 Jahren produzieren zahlreiche – insbesondere kleine und mittelständische – Unternehmen wettbewerbsfähig Güter und Dienstleistungen. Der globale Erfolg dieser innovativen Produkte und Dienstleistungen „Made in Germany“ hat wesentlich zur wirtschaftlichen Stärke Deutschlands beigetragen.

 

  1. Individualisierung als treibender Megatrend

Neben Globalisierung, demografischem Wandel oder Umweltschutz ist Individualisierung ein zentraler Megatrend des 21. Jahrhunderts. Auf ökonomischer Ebene resultiert aus diesem Megatrend eine zunehmende Ausdifferenzierung der Märkte und in letzter Konsequenz das personalisierte Produkt für die Zielgruppengröße Eins[1]. Im Gegensatz dazu steigt nicht zwangsläufig die Bereitschaft der Konsumenten, für personalisierte Produkte deutlich mehr zu bezahlen.

Um auch zukünftig wettbewerbsfähig zu agieren, müssen produzierende Unternehmen somit in der Lage sein, maximal individualisierte Produkte zu einem Preis herzustellen, der bisher nur durch Massenfertigung erreicht werden konnte. Die Lösung dieses technisch-ökonomischen Konflikts liegt in der Weiterentwicklung der bisher vorhandenen Methoden und Technologien der industriellen Produktion hin zu einer Industrie 4.0.

 

  1. Aktueller Entwicklungs- und Verbreitungstand

In Anlehnung an Kagermann[2] steht Industrie 4.0 dabei für eine echtzeitfähige, intelligente Vernetzung von Menschen, Maschinen und IT-Systemen zu einem hochflexiblen und hocheffizienten Produktionssystem. Allerdings sind die dafür erforderlichen neuen Technologien und Organisationsformen bisher

  • nicht in ganzer Breite und abschließend entwickelt sowie kommerziell verfügbar;
  • wenn bereits vorhanden, teilweise nicht bekannt;
  • wenn vorhanden und bekannt, wird das dahinterstehende Potenzial nicht immer erkannt.

In der Konsequenz ist die Industrie 4.0 in der industriellen Praxis bisher wenig verbreitet und umgesetzt. Eine Studie des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie belegt dies mit Zahlen aus dem Jahr 2015, auch wenn bereits eine Mehrzahl an Unternehmen eine Einführung geplant hat (vgl. Abbildung 1).

 

 

Abbildung 1: Verbreitung von Industrie 4.0 (Quelle[3])

 

Die mit der Industrie 4.0 verbundenen Potenziale – laut Bundesministerium für Wirtschaft und Energie ist bundesweit bis 2025 allein in sechs Schlüsselbranchen von einem zusätzlichen Wertschöpfungspotenzial von 150 Milliarden Euro auszugehen (vgl. Abbildung 2) – können somit bisher nicht gehoben werden.

Abbildung 2: Volkswirtschaftliches Potenzial Industrie 4.0 (Quelle [4])

 

  1. Von der Idee in die unternehmerische Praxis

Unternehmen, die sich aktiv mit dem Thema Industrie 4.0 auseinandersetzen und entsprechende Technologien und Organisationsformen einführen wollen, stehen u. a. aus den oben genannten Gründen vor der Herausforderung, keiner klar vorgegebenen Einführungsstrategie folgen zu können. Vielmehr steht eine Vielzahl unterschiedlicher Fragen im Raum, auf die die Antworten im eigenen Unternehmen häufig fehlen. Beispiele hierfür sind:

  • Müssen neue Fertigungstechnologien wie bspw. 3D-Druck beschafft werden? Wenn ja, welche und was sind passende Anbieter?
  • Welche sensorischen Fähigkeiten müssen alte und neue Maschinen und Anlagen mitbringen, um die zukünftig notwendigen Informationen sammeln zu können?
  • Welche Automatisierungslösungen gibt es, um wirtschaftlich in der Losgröße Eins produzieren zu können?
  • Welche neuen Logistikkonzepte z. B. für Lagerhaltung und Materialwirtschaft sind für eine Produktion bei Losgröße Eins erforderlich?
  • Wie werden sich Qualitätsmanagementkonzepte z. B. infolge der zunehmend automatisierten Datenerfassung und -auswertung verändern?
  • Welche neuen Formen der Prozess- und Arbeitsorganisation werden erforderlich?
  • Welche Auswirkung hat die Losgröße Eins auf die vorhandene Fertigungssteuerung?
  • Welche weiteren IT-Systeme z. B. zur Simulation, Virtual oder Augmented Reality sind in Zukunft notwendig?
  • Welche Standards werden im Waren- und Informationsaustausch mit Zulieferern und Kunden zukünftig gelten?
  • Welche finanziellen und personellen Ressourcen benötigt der anstehende Wandel und wie lang wird er dauern?

Bei der Beantwortung dieser und weiterer Fragen können Experten helfen. Allerdings ist auch dadurch nicht immer sichergestellt, dass abschließende Antworten gefunden werden. Grundsätzlich sollte bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Industrie 4.0 beachtet werden, dass die Einführung bspw. sogenannter cyberphysischer Systeme oder anderer innovativer Technologien nicht Selbstzweck sein kann und darf. Vielmehr sollte infolge der o. g. Ursachen für ein Unternehmen die folgende Fragestellung handlungsleitend sein:

Welche Individualisierung erwartet der Kunde an welcher Stelle im Produkt oder Leistungserstellungsprozess?

Kann diese Frage wenigstens grundsätzlich beantwortet werden, sind erste Handlungsfelder und Aktivitäten in der Regel bereits deutlich abzusehen.

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Literatur

 

[1]          Zukunftsinstitut GmbH: Die Individualisierung der Welt. http://www.zukunftsinstitut.de/artikel/die-individualisierung-der-welt/, 12.06.2015

[2]          Kagermann, H. et al.: Deutschlands Zukunft als Produktionsstandort sichern – Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0. Abschlussbericht des Arbeitskreises Industrie 4.0, April 2013.

[3]          Wischmann, S. et al.: Industrie 4.0 – Volks- und betriebswirtschaftliche Faktoren für den Standort Deutschland. Studie im Rahmen der Begleitforschung zum Technologieprogramm AUTONOMIK für Industrie 4.0. Studie, Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, März 2015

[1] Zukunftsinstitut GmbH: Die Individualisierung der Welt. http://www.zukunftsinstitut.de/artikel/die-individualisierung-der-welt/, 12.06.2015

[2] Kagermann, H. et al.: Deutschlands Zukunft als Produktionsstandort sichern – Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0, Abschlussbericht des Arbeitskreises Industrie 4.0, April 2013

[3] Wischmann, S. et al.: Industrie 4.0 – Volks- und betriebswirtschaftliche Faktoren für den Standort Deutschland. Studie im Rahmen der Begleitforschung zum Technologieprogramm AUTONOMIK für Industrie 4.0. Studie, Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, März 2015

[4] Wischmann aaO